Ein neues Kapitel reiht sich in die von Konflikten geprägte Saga ein, in der die Europäische Union und Ungarn die Hauptrollen spielen. Ein Abschnitt mit dem Titel „Spionage“, dessen Untertitel sich aus Geld, Karrierechancen oder Appellen an die patriotische Pflicht speist.
Ungarische Spionage in den europäischen Institutionen
Nach einer Recherche der ungarischen Seite Direkt36 soll die Regierung von Budapest über Jahre hinweg die Europäische Kommission ausspioniert haben, durch verdeckte Agenten des Geheimdienstes, die unter der Tarnung der Ungarischen Permanenten Vertretung bei Brüssel tätig waren. Ziel: frühzeitige Informationen über Maßnahmen, die den Interessen Ungarns schaden könnten und jenen des Premierministers Viktor Orbán, der seit seiner Rückkehr an die Macht 2010 in Konflikt mit der EU steht. Es gibt noch mehr. An der Spitze des ungarischen diplomatischen Corps bei der EU in jener Periode, von 2012 bis 2018, stand Olivér Várhelyi, heute EU-Kommissar in der von Ursula von der Leyen geführten Kommission. Várhelyi soll zumindest über die Aktivitäten der innerhalb seiner diplomatischen Vertretung betriebenen Spionage informiert gewesen sein.
Eine Aufklärung der Spionageaktivitäten der ungarischen Regierung liefern Untersuchungen des ungarischen Investigativzentrums Direkt36 – dessen Herausgeberpartner das ungarische Medium Telex ist – zusammen mit dem deutschen Magazin Der Spiegel, dem österreichischen Der Standard und der belgischen Zeitung De Tijd. Aus der Untersuchung geht hervor, dass falsche Diplomaten, unter dem Deckmantel von Budapest, EU-Beamte ungarischer Nationalität ansprachen, ihnen die Weitergabe sensibler Informationen oder die Beeinflussung der Beziehungen der Kommission anzubieten, im Austausch gegen Geld oder berufliche Unterstützung.
Die Rekrutierung durch den Agenten „V.“
Ein ungarischer Beamter der Europäischen Kommission berichtete der Seite Direkt36, dass er zwischen 2015 und 2017 von einem Diplomaten der Ungarischen Permanenten Vertretung bei Brüssel angesprochen worden sei, der sich später als Agent des ungarischen Geheimdienstes herausstellte.
Nach dem Bericht organisierte der Mann – identifiziert als „V.“ – regelmäßige Treffen mit dem Beamten in Brüsseler Parks, um Informationen über innerstaatliche Angelegenheiten der Kommission und Gerüchte aus deren Umfeld zu sammeln. Bei einem dieser Treffen soll „V.“ versucht haben, den Beamten als geheimen Informanten der Informationsstelle (IH), dem ungarischen Auslandsgeheimdienst, zu rekrutieren, und indirekte Gelder an eine ihm nahestehende Organisation versprochen haben. Der Beamte lehnte das Angebot ab, traf den Diplomaten jedoch weiterhin informell.
Die Spionageaktivitäten hatten eine breite Zielsetzung. Nach den Ergebnissen der Untersuchung und den Aussagen der Beteiligten bestand das Ziel darin, „dass die Texte der EU die Weltanschauung der Orbán-Regierung widerspiegeln“. Dank der journalistischen Arbeiten wurden diese Spionageaktivitäten – ob sie erfolgreich waren, ist unklar – den europäischen Führungsgremien gemeldet. Die Europäische Kommission reagierte umgehend: „Wir werden eine interne Arbeitsgruppe einsetzen, um diese Vorwürfe zu prüfen“, kündigte heute ein Sprecher des Berlaymont-Gebäudes an, und fügte hinzu, dass die Exekutive „diese Anschuldigungen sehr ernst nimmt“. Die Untersuchung der Kommission konzentriert sich nun auf die Prüfung der Anschuldigungen, mögliche innere Verwundbarkeiten und Gegenmaßnahmen, um ähnliche Fälle in Zukunft zu verhindern. Die Ungarische Permanente Vertretung bei Brüssel hat bisher keine offizielle Stellungnahme abgegeben.
Frühere Fälle ungarischer Spionage
Es ist nicht das erste Mal, dass das Informationsbüro (IH) der Spionage gegen EU-Beamte beschuldigt wird. Zwischen 2015 und 2017 soll der ungarische Geheimdienst Überwachungs- und Abhörmaßnahmen gegen das Personal des Europäischen Amts für Betrugsbekämpfung (OLAF) durchgeführt haben, das zu jener Zeit Gegen eine Gesellschaft ermittelte, die mit dem Schwiegersohn des Ministerpräsidenten Orbán in Verbindung stand. Der Fall kam bis ins Europäische Parlament, wo er im Januar 2025 diskutiert wurde. Den Berichten zufolge fiel die ungarische Agentenschaft durch wenig diskrete Methoden und Verstöße gegen die grundlegenden Sicherheitsnormen auf. Wie 2017, als der als „V.“ bekannte Agent – der Kopf des IH-Netzwerks in Brüssel – enttarnt wurde und der Zusammenbruch der gesamten ungarischen Geheimdienstoperation in der europäischen Hauptstadt folgte.
Ungarn weist die Anschuldigungen zurück: „Kampagne von ausländischen Geheimdiensten“
Die ungarische Regierung wies alle Anschuldigungen zurück und bezeichnete sie als eine „Diffamierungskampagne gegen Ungarn, orchestriert von ausländischen Geheimdiensten, mit Beteiligung (unter anderem) des ungarischen Journalisten Szabolcs Panyi“. Der Regierungssprecher Zoltan Kovács schrieb dazu auf X: „Sie können nicht akzeptieren, dass Ungarn der Friedensbotschaft folgt, also werden sie nichts unversucht lassen, uns in den Krieg hineinzuziehen.“
Brüssel gilt als eine der weltweiten Zentren der Spionage, Sitz nicht nur der europäischen Institutionen, sondern auch der NATO und zahlreicher internationaler Organisationen. Dennoch werden heimliche Aktivitäten üblicherweise mit den Geheimdiensten von Ländern wie Russland, China oder Iran in Verbindung gebracht, nicht mit den Geheimdiensten von EU-Mitgliedstaaten wie Ungarn.